Ein Gespräch mit Ausbilderin Anja Beran, Pferde-Fachtierarzt Dr. med. vet. Matthias Baumann und Chiropraktikerin Dr. med. vet. Zrinjka Hardenberg
Runder Hals, Nase vor der Senkrechten; ein Idealbild, das sich im Reitsport bereits vor Jahrhunderten etabliert hat. Und auch im Rennsport beobachtet man immer mal wieder Arbeitsreiter, die ihre Schützlinge bemüht durchs Genick galoppieren. Doch bedeutet ein runder Hals automatisch auch ein gesunder Rücken? Ein gesund aufgewölbter Rücken, der das Reitergewicht ohne Schaden tragen kann? Ab welchem Alter bzw. auch in welchen Lebenslagen machen Bemühungen in diese Richtung überhaupt Sinn? Was passiert kurz und langfristig, wenn nur der Hals über Krafteinwirkung rund gemacht wird? Und wie passen Ausbinder in diese Gleichung?
Fragen über Fragen, die ich drei Experten ganz unterschiedlicher Ausrichtung gestellt habe: Der renommierten Ausbilderin Anja Beran, Pferde-Fachtierarzt Dr. med. vet. Matthias Baumann und Pferde-Chiropraktikerin Dr. med. vet. Zrinjka Hardenberg.
Zeit ist Geld in der Pferdeausbildung
Chiropraktikerin Dr. med. vet. Zrinjka Hardenberg praktiziert und Münchner Raum und im Ruhrgebiet.
“Jedes Pferd, das ein Reitpferd ist, sollte in der Lage sein, seinen Rücken aufzuwölben, den Rumpf anzuheben und das Becken nach hinten zu kippen”, erklärt Dr. Hardenberg die mechanische Grundlage dieser “idealen” Silhouette. “So kann es das Reitergewicht schadlos tragen. Die Kopf-Halshaltung folgt dann quasi automatisch. Das gilt für Freizeitpferde genauso wie für Hochleistungssportpferde.”
“Um dieses Idealbild erstmals anzukratzen brauchen junge Pferde unter idealen Trainingsbedingungen mindestens 6 bis 9 Monate”, urteilt Pferde-Fachtierarzt Dr. Matthias Baumann. Danach gilt es, diese punktuellen Erscheinungen zu stabilisieren. “Aufgewölbter Rücken, eine aktiv Last tragende Hinterhand: Bis ein Pferd diese gesunde Haltung perfekt und geschmeidig in allen Lebenslagen halten kann, braucht es circa sechs Jahre der Ausbildung”, schätzt Anja Beran, eine langjährige Dressurtrainerin aus dem Allgäu, die sich der klassischen und fairen Ausbildung von Reitpferden verschrieben hat.
Heißt für die mehrfache Bestseller-Autorin und vielfach gebuchte Rednerin konkret, dass ein ab Tag eins korrekt und konsequent gearbeitetes Pferd mit etwa 9 Jahren seinen Höhepunkt der dressurmäßigen Ausbildung erreicht hat. “So viel Zeit will sich heute leider kaum jemand mehr in der Pferdeausbildung nehmen”, so Anja Beran. “Denn Zeit ist Geld.”
Ein ähnliches Zeitfenster sieht Chiropraktikerin Dr. Hardenberg als Basis einer gesunden Ausbildung. “Dressurpferde in den hohen Klassen sind häufig erst mit 10, 11 Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Trag- und Versammlungskraft angekommen. Bei gutem Training sind sie jetzt in der Lage, die geforderten Lektionen mit ausreichend Stabilität durchzuführen.
Bei jüngeren Pferden sieht man oft, dass die „Puste“ ausgeht, sprich, die Muskelkraft nicht reicht. Das ist dann die Situation, wo die Verletzungsgefahr sehr groß ist: beim Dressurpferd am Fesseltrageapparat der Hinterhand, beim Springpferd Sehnenverletzungen an der Vorhand.”
Den runden Hals erzwingen: Ungeduldige Reiter als Leistungsbremse
Fehlt es an Zeit, Geduld oder auch an reiterlichen Fähigkeiten, die Tragkraft reell zu erarbeiten, gibt es ein disziplinsübergreifend beliebtes Allheilmittel: “Hilfszügel”. Egal ob Ausbinder, Dreieckszügel oder Stoßzügel: ein bisschen statischer Druck aufs Gebiss und der Youngster stellt den Kopf schnell in die gewünschte Position.
Tierarzt Dr. med. vet. Matthias Baumann und Chiropraktikerin Dr. med. vet. Zrinjka Hardenbergs sind sich einig, dass solch eine erzwungene Halshaltung – besonders über längere Zeit – nur eines bewirkt: Eine maximale Verspannung. Anja Beran arbeitet mit ihren älteren Ausbildungspferden, doch ganz besonders mit den jungen nie mit Hilfszügeln. “Es fehlt die entscheidende Möglichkeit, vorne auch mal nachzugeben und den Druck wegzunehmen. Wer sinnvoll mit “Hilfszügeln” trainieren möchte, müsste sie ständig auf und abbauen.”
“Es werden falsche Muskelgruppen angespannt und das Pferd drückt den Rücken weg”, so Dr. Hardenberg. “In der Ausbildungsskala folgt die Anlehnung auf Takt und Losgelassenheit. Erst wenn das junge Pferd seinen Takt gefunden hat und seine Muskulatur rhythmisch an- und entspannen kann, ist es soweit koordiniert, dass es der Reiter dazu animieren kann, den Brustkorb anzuheben. Dieser Bewegung folgt der Hals und es kommt zur Anlehnung.” Die richtige Position des Halses hängt also mit der Position des Rumpfes zusammen. Lernt das Pferd das in seiner Ausbildung nicht, wird es langfristig nicht in der Lage sein seinen Reiter schadlos zu tragen.
“Massive Muskelverspannungen, fehlende Muskulatur im Rücken, fehlende Tragkraft, im schlimmsten Falle Kissing Spines” sind Folgen, mit denen die Chiropraktikerin bei ihren Patienten regelmäßig konfrontiert wird. “Zusätzlich ist diese Halsung für unzureichenden Sauerstoffzufuhr durch Einengung im Rachen und daraus resultierende Sauerstoffmangel in der Muskulatur die Folge”, ergänzt Dr. Baumann eine signifikante Auswirkung für Sportpferde.
Den Kopf “schön” hinstellen: Unfallquelle und Gesundheitsrisiko
Den Pferdekopf mechanisch in die vermeintlich ideale Position zu bringen – sei es durch starke Handeinwirkung oder Hilfszügel, hat nicht nur kurzfristige Leistungseinbußen, sondern auch langfristige Schäden zur Folge. “Kommt der Rücken nicht hoch und wird das Becken nicht nach hinten gekippt, haben wir die klassische „Kopf hoch – Rücken weg“ Situation, so Dr. Zrinjka Hardenberg.
“Deutlich ausgeprägter Unterhals, falscher Knick, schlechte und/oder verspannte Rückenmuskulatur. Häufig erscheint das Pferd unförmig dick, da der Bauch nach unten hängt und die Bauchmuskeln fehlen. Die Hinterbeine treten nach hinten raus und kommen in der Bewegung schlecht bis gar nicht unter den Körper. “ Häufig treten bei derartig gearbeiteten Pferden Verletzungen an den Gliedmaßen, wie Sehnenschäden oder Gelekentzündungen auf, da die Stoßdämpfung durch den Schultergürtel fehlt und die Bewegungsenergie ungebremst an die Gliedmaßen weitergegeben wird.
Der Weg von einem schnell in Form gezwungenen zu einem reell getragenen Hals kann oftmals Jahre in Anspruch nehmen, weiß Anja Beran. In ihren Stallungen stehen zahlreiche einstige Nachwuchs-Stars und Sport-Hoffnungsträger, die den schnell in Form gezurrten Hals körperlich und/oder mental nicht verkraftet haben und nun in mühseliger Kleinstarbeit zurück auf den Weg der reellen Ausbildung gebracht werden. Einen interessanten Vergleich hatte Beran, als innerhalb kürzester Zeit ein junges Rennpferd von der Bahn und ein junger Hengst von der Körung bei ihr eintrafen.
“Die Umschulung des Rennpferds lief überraschend leicht und positiv. Bei ihm hatte niemand versucht, mit Krafteinwirkung irgendeine Haltung zu erzwingen. Stattdessen lief er locker durch den Körper.” Entsprechend leicht konnte Beran hier mit der dressurmäßigen Ausbildung weitermachen. Anders der junge Warmbluthengst, der im Rahmen der Körung schon aus jungen Jahren statische Ausbinder gewöhnt war. “Er war extrem nörgelig am Gebiss, widersetzlich, der Schritt war passartig und auch der Galopp zerstört.” Solch ein in kürzester Zeit in Form gezwungenes Pferd wieder von hinten nach vorne zu arbeiten und Vertrauen ins Gebiss zu erarbeiten ist oftmals ein Prozess, der Jahre dauert.
Bei hohem Tempo muss die Hand stützen, nicht manipulieren
“Natürlich sollte ein Reiter im Hochleistungssport auf den Hals einwirken und Spannung ins Pferd bringen”, urteilt Fachtierarzt Dr. Matthias Baumann. “Mit diesem fünften Fuß kann ein Pferd Sprünge sicher überwinden oder längere Strecken durchgaloppieren.” Das setzt jedoch ein rittiges und kräftiges Pferd voraus, das gelernt hat, den Rücken während der Arbeit nicht wegzudrücken.
Diese Trainingspunkte hat Anja Beran selbst mit jenen Schützlingen, die sie im Auftrag des Haupt- und Landgestüts Marbach für die Hengstleistungsprüfung vorbereitete (Parcoursspringen, Geländetrecke & Jagdgalopp) zu 90 Prozent in der Dressur erarbeitet hat. “Natürlich haben wir unseren Hengsten draußen mal die Sprünge gezeigt, aber Intervall- oder auch Konditionstraining machen wir so gut wie gar nicht. Die Hengstleistung konnten sie nach der soliden Dressurarbeit in der Halle technisch und konditionell hervorragend absolvieren!”
“Bei Rennpferden macht ein „Hals-Rundreiten“ gar keinen Sinn”, so Dr. Hardenberg. “Es geht ja nicht darum, dass das Pferd den Hals rund macht, sondern den Rumpf anhebt zur Entwicklung von Tragkraft. Die Gewichtseinwirkung durch einen Dressur- oder Springreiter ist eine völlig andere als durch einen Rennreiter: der Jockey ist ein Fliegengewicht. Ein gut trainiertes Rennpferd kann seinen Reiter allein durch seine Bauchmuskeln problemlos gegen die Schwerkraft stabilisieren.” Rennställen, die mit ihren Schützlingen in den Wintermonaten dressurmäßig arbeiten und Krafttraining machen wollen, rät Anja Beran zu Klettereinheiten im Gelände oder – schlicht und einfach – zu vielen feinen Tempounterschieden während des Trainings.
“Auch ein bisschen Handarbeit würde sicherlich Sinn machen”, so Beran. “Wer das Pferd vor der Arbeit an der Hand ein paar Tritte übertreten lässt, macht die Gelenke weich und biegsam.” Heißt konkret: Ein zufriedeneres und langfristig gesünderes Pferd mit niedrigerem akuten Verletzungsrisiko.